Sachbuchrezensionen

(zumeist für den SPEKTRUM-Verlag Deutschland


Juli 2002: "Die Genomfalle" von Ursel Fuchs, Patmos-Verlag, Düsseldorf, 2000

Sept. 2002: "Genom und Glaube / der unsichtbare Käfig" von Harald zur Hausen, Springer-Verlag, Berlin 2002.

Okt. 2002: "Die Logik des Lebenden" von François Jacob, Fischer-Verlag Frankfurt 2002.

März 2003: "Das Buch des Lebens - wer schrieb den genetischen Code?" von Lily E. Kay, Hanser-Verlag München 2001.

Sept. 2009: "Das kooperative Gen", Joachim Bauer, Hoffmann & Campe, 2008


Rezension "Die Genomfalle", Ursel Fuchs, Patmos-Verlag, Düsseldorf, 2000

Punktewertung (5x5 Score):
Inhalt: 1 (von 5)
Vermittlung: 2 (v. 5)
Verständlichkeit: 3 (v. 5)
Lesespaß: 1 (v.5)
Preis-Leistung: 1 (v.5).

Thema

Die "Genomfalle" ist gedacht als Sachbuch für den Laien. Die Autorin will (so der Untertitel) "die Versprechungen der Gentechnik, ihre Nebenwirkungen und Folgen" kritisch analysieren und aufbereiten. Behandelt wird eine breite Palette von der Grundlagenforschung über diagnostische Methoden, medizinisch-kurative Verfahren bis zu industriellen Techniken.

Fragt man Laien über ihre Meinung zur Gentechnologie, so wird man oftmals mit einer von zwei Extrempositionen konfrontiert: "Gentechniker können alles! Wenn wir nicht aufpassen, werden sie uns durchanalysieren, und bald laufen hier Menschen mit Kiemen oder 2 Köpfen rum!" oder aber "Gentechniker können nichts! Die fischen doch nur im Trüben, Leben ist viel zu kompliziert, als dass man es wirklich verstehen könnte. Wenn wir nicht aufpassen, werden die uns aus Versehen Monster züchten!" Frau Fuchs vertritt letztere Ansicht, wie schon der Buchtitel ahnen lässt (gemeint ist die Falle, in die wir tappen, wenn wir uns auf "life science" verlassen). Wobei sie allerdings z.B. auf Seite 161 bemerkenswerterweise beide Positionen gleichzeitig vertritt: Zunächst weist sie mit Süffisanz hin auf die immer noch offene Anzahl menschlicher Gene (Zitat: die Forscher gingen vor mit der "Verwegenheit der Ahnungslosen"), um 2 Zeilen weiter beim Menschen gezielte Optimierung von Schönheit, Gesundheit und Intelligenz zu prophezeien...

Stil und Rhetorik

Semantisch ist das Buch leider ein kompletter Fehlgriff, die Autorin verwendet Schlagworte wie "Embryonen-TÜV", "molekularbiologischer Lauschangriff", "Durchleuchten à la Big Brother", "Herr der Gene", "Embryonenfarm", "Genopoly", "human body shop", "der Mensch unter Qualitätskontrolle", "Humanzüchtung", "Menschenmaterial" - um nur einige wenige zu nennen. Damit nicht genug, auf Seite 133 erfahren wir, wie die biologischen Wissenschaften von Darwin über den Sozialdarwinismus geradewegs in die KZs der Nazis führten. In der Zeittafel im Anhang sind - rhetorisch geschickt - zwischen die historischen Meilensteine der Biologie immer wieder Ereignisse betreffend Nazi-"Rassenhygiene" eingestreut, was den Eindruck erwecken soll, Genetik, Gentechnik, Sozialdarwinismus, Eugenik und Rassismus seien unlösbar miteinander verstrickt. Mehrfach klagt sie die gesamte Bioethik an, nichts weiter zu sein als Erfüllungsgehilfen und Lobbyisten von Wirtschaft und Forschung (S. 16, 131, 215ff - 'Ethik zur Akzeptanzbeschaffung') - offenbar gibt es für Frau Fuchs nur eine "gute und richtige Bioethik", und zwar die totale Ablehnung und Verweigerung von jeglicher Biotechnologie - offenbar weiß sie nicht, wann und unter welchen Umständen "biomedical ethics" entstanden sind. Ihren Stil jedenfalls kann man nur als Demagogie der übelsten Sorte anprangern.

Der Aufbau

Die formalen Mängel sind mindestens so erheblich wie die semantischen. Abbildungen fehlen gänzlich, ebenso Tabellen oder Flussdiagramme, ein Stichwortregister ist auch nicht vorhanden. Ein erheblicher Teil der Zitate ist nicht nachprüfbar, weil es meta-Zitate sind aus Reden, Fernsehsendungen, Dissertationsschriften. Einige Behauptungen werden ohne Beleg und Verweis aufgestellt (u.a. S.19 Abs.3: der 'Tod solle überwunden werden', S.77 Abs.2: die Angaben über Alzheimer, S.90 Abs.2-4: zu den Ursachen von Krebs). Und schlimmer noch: Während der Leser in vielen der Kapitel mit Zahlen betreffend die wirtschaftlichen Aspekte der life science (übrigens ein Lieblingsthema der Autorin) im Fließtext erschlagen wird, erklärt sie nicht eine einzige der kritisierten Technologien: Wie funktioniert Präimplantationsdiagnostik? Was ist PCR, wie geht Sequenzierung? Was ist ein Gentest?

Die sachliche Ebene

Inhaltlich ist das Buch eine Katastrophe. Nach der Lektüre regt sich der Verdacht, dass die Autorin nichts erklärt, weil sie in der Tat nur über mangelhafte bis ungenügende Sachkenntnis verfügt: Der Kontext, in dem DNA-Chip-Technologie auftaucht, lässt vermuten, dass Frau Fuchs gar nicht so recht weiß, was das ist (u.a. S.24 Abs.1; S.79 Abs.3). Die Begriffe "Gen" und "Allel" werden immer wieder durcheinander geworfen (u.a. S.24 Abs.1; S.92 Abs.1 'die falschen Gene' - gemeint sind Allele, ebenso S 98 Zeile 3, S 109 'Langlebigkeitsgen' - wenn schon, dann '-allel'; usw. usf). Stammzellen, so Frau Fuchs, könnten sich zum ganzen Menschen entwickeln (S.178 Abs1), und auf Seite 212-213 schwadroniert sie über "antibiotika-resistente VIRUS-Sorten". Die Liste kann beliebig verlängert werden, wovon hier abgesehen sei...

Argumentation und Logik

Auch hier sind die Schwächen nicht geringer. Zunächst fällt auf, dass Frau Fuchs nicht an einer einzigen Stelle ein gutes Haar an Genetik oder Gentechnik lässt. Solch eine fundamentalistische Einstellung ist in aller Regel Indikator für verbohrtes und sachlich unzutreffendes Denken, sei es in Politik, Wissenschaft oder Weltanschauung. Selbst mittlerweile alt-bewährte Dinge wie die gentechnologische Insulin-Produktion werden von ihr mit nicht nachvollziehbaren Begründungen verworfen (S.58-60). Es ist unmöglich, im Rahmen einer Rezension den dem Buch innewohnenden Unsinn komplett abzudecken, daher seien nur zwei Punkte abgehandelt:

  1. Somatische Gentherapie, so Frau Fuchs, erlebe "ein Desaster mit Schwerkranken und Toten" (S.12) und sei im übrigen wirkungslos (S.44, 46, 49). Auch hier fehlen weit gehend die Zahlen, des weiteren wird keinerlei Unterscheidung getroffen zwischen in-vivo und ex-vivo Therapien. Ersteres findet im Patienten selber statt, im zweiten Fall entnimmt man ihm Stammzellen, die dann genetisch verändert und anschließend rück-transplantiert werden. Gerade letztere Methode hat bereits eine Vielzahl von Erfolgen gebracht und ist dabei, zur medizinischen Routine entwickelt zu werden. (nähere Info z.B. unter http://213.80.3.170:80/trials/index.html). Darüber hinaus ist zu betonen, dass neue Therapien nur bewertet werden können, indem man sie mit anderen, etablierten vergleicht. Dass bei deren Einführung (bisweilen tödliche) Misserfolge gehäuft vorkommen, ist traurig, aber trivial. Des weiteren sind es gerade die "austherapierten" Patienten, die sich oftmals zur Austestung neuer Verfahren zur Verfügung stellen, sei es als letzten Strohalm, sei es, um auf diese Weise wenigstens noch Mitmenschen helfen zu können. Die Heilungs- und Überlebenschancen sind unter solchen Umständen naturgemäß minimal. Einen aussagefähigen Vergleich der bisher erfolgten klinischen Gentherapie z.B. mit Chemotherapie, Organtransplantation oder Narkose sucht man bei Frau Fuchs jedoch vergeblich.
  2. 2.: Dass sich Frau Fuchs an vielen Stellen nicht auf eine einheitliche argumentative Linie einigen kann, wurde bereits angedeutet. An etlichen Stellen stellt sie fest, Gentests hätten keinerlei prädikativen Wert (u.a. S. 73, 76, 87). An anderen Stellen jedoch zeichnet sie das diametral gegenteilige Bild der drohenden, erfolgreichen, genetischen Totalanalyse des Menschen (u.a. S.79, 107, 129, 195). Das ist die Logik: "Erstens habe ich den Rasenmäher meines Nachbarn gar nicht ausgeliehen, zweitens war er schon kaputt, als ich ihn bekam, und drittens war er ganz, als ich ihn zurück gab". Das Zitat von S.129 ist übrigens besonders bemerkenswert, soll doch "bereits ein Blutstropfen der Mutter für einen Gentest am Embryo ausreichen" - sollte Frau Fuchs etwa entgangen sein, dass bei der Zeugung eines Kindes ein männliches Spermium etwa zur Hälfte zum kindlichen Genom beiträgt, und dass man den väterlichen Beitrag mitnichten im mütterlichen Blut findet?

Schlimm an Beiträgen wie dem besprochenen Buch ist, dass in solch kakophonem Geschrei fundamentalistischer Biotechnologiegegner wichtige Fragen zu verhallen drohen: Wohin sollen wir mit genetischen Testergebnissen, wenn wir die diagnostizierten Krankheiten nicht behandeln können? Wie ist das "Recht auf nicht-Wissen" einzustufen gegenüber einem Leben in erzwungener Unwissenheit? Was ist belastender, eine Diagnose, die mir mit hoher Wahrscheinlichkeit den unbehandelbaren erblichen Veitstanz (Chorea Huntington) voraussagt, oder ein Leben in Ungewissheit, nachdem ihn einer meiner Elternteile bereits hatte? Wie sind genetische Daten vor der Wirtschaft zu schützen, kann ein Kompromiss zwischen Interessen der Bürger einerseits und Arbeitgeber oder Versicherungen andererseits gefunden werden? (Fragen, die von der Autorin wenigstens andiskutiert wurde, wenn auch total einseitig). Oder weiter: Wird die Wertigkeit von Gentests nicht viel zu hoch eingeschätzt, da die Mehrzahl aller Erbkrankheiten auch rein klinisch fest gestellt werden kann? Wie also sind "Gen-Daten" gegenüber anderen Personen-bezogenen Daten einzuschätzen, zu behandeln, zu schützen? Wollen wir - und wie können wir - in unserer schönen, neuen, globalisierten Welt verhindern, dass Gentests per Internet geordert werden, die Kunden mit den Ergebnissen dann aber alleine gelassen werden? Wie sieht's im Vergleich dazu mit dem Versandhandel von Medikamenten per www aus? Solch differenzierte Betrachtung sucht man im Buch vergeblich...

Fazit

Dieses Buch gehört zu den schlechtesten, die ich je gelesen habe. Interessant ist es lediglich für Wissenschaftshistoriker oder Linguisten, die vergleichende sprachliche Analysen fundamentalistisch-dogmatischer Literatur anstellen möchten.

Juli 2002, Dr. Andreas Beyer


Rezension "Genom und Glaube - der unsichtbare Käfig" von Harald zur Hausen, Springer-Verlag, Berlin 2002.

Punktewertung (5x5 Score):
Inhalt: 2 (von 5)
Vermittlung 2 (v. 5)
Verständlichkeit 2 (v. 5)
Lesespaß 2 (v. 5)
Preis-Leistung 2 (v. 5).

Thema

Den Autor beschäftigt die Beziehung zwischen Genomforschung und Glauben, womit tatsächlich Religion gemeint ist. Der "Käfig" steht offenbar für Grenzen, an die unser Denken immer wieder stößt, bedingt durch unsere Evolution, Kultur oder Religion - was auf S. 5 zwar kurz angerissen wird, ansonsten aber offen bleibt.

Layout

Das Buch ist recht lieblos gestaltet. Der Text im Flatter- statt Blocksatz, keine zusätzlichen Abstände zwischen den Absätzen, nicht-einheitliches Zahlenformat ("X000" / "X Tausend"), Literaturverzeichnis zwar vorhanden, dafür aber kein Stichwortregister und Glossar. Tabellen und Abbildungen wären an vielen Punkten angebracht, leider fehlen sie völlig.

Zielgruppe

Der Autor scheint sich nicht recht entscheiden zu können, ob er für Kollegen oder interessierte Laien schreibt. Meist bleibt er einerseits für den fachkundigen Leser zu oberflächlich, während er andererseits dem Laien notwendige Erklärungen und Definitionen vor enthält (Molekularstammbäume S. 30u; springende Gene, genet. Imprinting, genet. Code S. 34/35; spleißen S. 41 u.v.a.m.).

Inhaltlicher Duktus

Das Buch schneidet definitiv viel zu viele Themen an. Entstehung des Weltalls, Entstehung des Lebens, Urmenschen, Geschichte der Evolutionstheorie, Geschichte der Molekularbiologie, Evolutionsmechanismen, genetische Dispositionsfaktoren für Krankheiten, Gendiagnostik, Gentherapie, Klonen, Stammzellen, deren ethische Bewertung, Möglichkeiten zur Beeinflussung komplexer menschlicher Eigenschaften, Schöpfungsmythen, Begräbnisriten, Gene-Verhalten-Kultur, Menschenwürde, 'freier Wille', Evolution-Verhalten-Ethik, 'Gut' & 'Böse'. Kein Wunder, dass sich der Autor total verzettelt und keines der Themen auch nur annähernd erschöpfend behandeln kann.

Sachliche Richtigkeit

Die erwähnte thematische Breite wird mit einer großen Anzahl Fehler und Ungenauigkeiten erkauft. Die Sternentstehung (S. 7/8) ist derart plakativ geschildert, dass es unkorrekt wird. Die Annahme, unser All könne sich nur ausdehnen, weil es "außerhalb" noch "Raum" gibt (S. 8u) ist schlicht falsch. Dass Homo sapiens andere Menschenarten aktiv ausrottete (S. 24u), ist Spekulation. Die Aussage, "die Richtung chemischer und auch biologischer Reaktionen [unterliege] häufig nicht dem Zufallsprinzip" (S. 31/32), ließe man in einer biologischen oder chemischen Diplomprüfung nicht durch gehen. Genomforschung schaffe den "genetisch durchsichtig(en)" "gläsernen Menschen", so eine These des Autors, ohne dass er jedoch begründet WIESO und WIE (S. 39). "homolog" heißt nicht "fast identisch" (S. 41). Es ist eben nicht zutreffend, dass im menschlichen Gehirn wesentlich mehr Gene aktiv sind als im Schimpansenhirn (S. 43), vielmehr ist das Expressionsmuster in unserem Gehirn wesentlich differenzierter und auch individuell unterschiedlicher (s. die Arbeiten von S. Pääbo, u.a.: Intra- and interspecific variation in primate gene expression patterns. Science 2002, 296(5566): 340-3.). Amplifikation von Genen in vivo kann man sicher nicht mit dem Konzept der Vererbung erworbener Eigenschaften nach Lamarck vergleichen (S. 45). Wenn der Autor "'kranke' und 'gesunde' Gene" sagt (Überschrift Kapitel 4.1, S. 48), meint er nicht Gene, sondern Allele (!!) . Pathologisch verkürzte Gene sind i.d.R. eben keine Spleißvarianten (S. 68). Dass die Ausrottung von Gesellschaftsschichten ("Freigeister" durch die Inquisition, Adel während Revolutionen etc.) die biologische Evolution beeinflusse (S. 103), ist schlicht absurd. Das frühe Weltbild war nicht helio- sondern geozentrisch. Die These, das biblische Paradies sei eine Erinnerung an Afrika, die Wiege der Menschheit (S. 146), ist abenteuerlich. Was der Autor meint, wenn er sagt, philosophische Begründungen der Ethik seien "auf Normen für das "Ich" aufgestellt", und warum es überraschend ist, dass ethische Betrachtungen "sich auf die Analyse des Innenlebens des Individuums beziehen" (S. 159) bleibt nebulös.

Die Argumentation

ist an etlichen Stellen inkonsistent, nur 4 Beispiele seien auf geführt.

  1. Um ein gänzlich atheistisch-materialistisches Weltbild zu begründen, holt der Autor weit aus und beginnt mit einem sehr oberflächlichen, kosmologischen Kapitel. Er propagiert das rein spekulative Konzept eines "Transalls", in das unser Universum eingebettet sei und von dem es abstamme, angelehnt übrigens an die Hypothese eines "Quark-Quanten-Kontinuums", das einige wenige Kosmologen propagieren.
  2. Nun gilt seit Huxley die sog. agnostische Gesinnung als 'korrekt' für den empirischen Wissenschaftler: Was immer empirisch (er)fassbar ist wird untersucht, alles andere wird nicht kommentiert, sondern den Philosophen und Theologen überlassen. Dieses Konzept, recht schön von Karl Popper in 'Die Logik der Forschung' beschrieben, hat den Erfolg der modernen Wissenschaften erst ermöglicht. Zur Hausen verletzt es, indem er 'Gott', den 'unsichtbaren Weltgeist' also, der unser Universum 'einfach so', Kraft seiner Macht 'erschaffen' kann, ersetzt durch ein 'Transall', das 'einfach da' ist und, obwohl nicht nachweisbar, durch bestimmte "Strukturen" irgendwie "Weltenstehungsprozesse" (S. 13u) einleiten kann. Hier wird Teufel mit Beelzebub ausgetrieben, Ein Glauben durch einen anderen ersetzt...
  3. Auf S. 149/150 konstatiert der Autor, "die Aussage 'alle Menschen sind gleich!' mag in juristischem Sinne ihre Notwendigkeit und damit ihre Berechtigung haben", aufgrund unseres molekularbiologischen Wissens [sei] sie jedoch "schlicht falsch". Zur Hausen hat den auf Humanismus und Aufklärung zurück gehenden Begriff Égalité vollkommen missverstanden, denn die hier geforderte Gleichheit will Gleichbehandlung von Menschen, gerade weil und obwohl sie eben nicht gleich sind.
  4. Den Begriff "freier Wille" stellt der Autor explizit in Frage (S.135f), er sei eine Fiktion (Bleibt aber die Frage: Wieso empfinden wir ihn dann? Und was bezeichnen wir eigentlich damit? Welche Ebenen sollte man in diesem Begriff unterscheiden?). Der Vergleich zwischen Schach spielendem Menschen und Schachcomputer belege "das Fehlen 'reiner', rationaler Willensentscheidungen" beim Menschen (S. 137), ohne dass der Kausalzusammenhang dargelegt wird - eine aus der Luft gegriffene Behauptung, die ganz offensichtlicher Unfug ist. Für den Autor ist "Menschenwürde" nichts als ein unbelegbares Konstrukt (S. 141), ihre "exakte Definition" falle schwer (Sind demnach auch Worte wie 'Liebe' oder 'Schönheit' gegenstandslos?). Nun, in der Tat sind solcherlei Begriff komplex und empirisch praktisch nicht fassbar - aber sind sie deswegen etwa unsinnig und inhaltsleer??
  5. Zur Hausen schießt mehrere Breitseiten gegen Religion: Sie sei nichts als ein über Generationen zusammen gezimmertes, primitives Weltbild" (S. 142). Alle Versuche der Religionsgemeinschaften, naturwissenschaftliche Erkenntnisse in ihr Weltbild ein zu bauen, seien unglaubwürdig (S. 141). Mit Süffisanz fragt er vor dem Hintergrund eines sich über die Jahrhunderte wandelnden Gottesbildes, ob sich der Schöpfer selber denn auch verändere (S. 151). Implizit, aber deutlich, wirft er dem Christentum vor, durch wörtliche Befolgung des Gebots "machet euch die Erde untertan" zur Zerstörung unserer Welt beigetragen zu haben (S.141f, 148). Mehrfach weist er auf im Namen der Religion(en) begangene Verbrechen hin. Wer so argumentiert verwechselt Form und Inhalt, Prinzip und konkretes Erscheinungsbild. Solche Scheinargumente sind einfach nur ärgerlich, und sie werden mit umgekehrtem Vorzeichen auch gerne von religiösen Fundamentalisten angewendet: Da werden auf einmal Darwin und die Evolution identifiziert mit den Auswüchsen des Sozialdarwinismus oder Bolschewismus, und die dynamische Entwicklung des naturwissenschaftlichen Weltbildes wird als Beweis zitiert für die Unzuverlässigkeit der Wissenschaft.

Intention

Um es im Klartext zu sagen, der Autor ist fundamentalistischer Atheist auf einem Kreuzzug gegen Religion(en) per se (S. 126, 175), wobei er en passant die Philosophie direkt mit abwatscht (S. 143). Dieser Versuch ist gänzlich misslungen.

Fazit

Das Buch enthält trotz der auf geführten, erheblichen Schwächen eine Hand voll guter (wenn auch nicht neuer) Gedanken und Ansätze, so dass man es nicht total verreißen mag. Möge nach kompletter Umarbeitung eine zweite Auflage erscheinen; diese hier ist jedenfalls nicht zu empfehlen.

September 2002, Dr. Andreas Beyer


Rezension "Die Logik des Lebenden" von François Jacob, Fischer-Verlag Frankfurt 2002.

Punktewertung (5x5 Score):
Inhalt: 4 (von 5)
Vermittlung 3 (v. 5)
Verständlichkeit 2 (v. 5)
Lesespaß 3 (v. 5)
Preis-Leistung 4 (v. 5)

Thema

Manche Menschen, die es geschafft haben, bekannt zu werden, entwickeln den unangenehmen Hang, sich öffentlich zu Dingen zu äußern, die sie nicht begriffen haben oder Bücher über Themen zu schreiben, von denen sie nichts verstehen. Nicht so Francois Jacob (Nobelpreis 1965 zusammen mit Jaques Monod). Zwar schreibt Jacob durchaus über ein Thema, das ziemlich abseits von seinem Arbeitsgebiet liegt, tut dies aber mit größter Sorgfalt, Gründlichkeit und Sachkenntnis: Inhalt des Buchs ist die Geschichte der modernen Biologie, mit Hauptgewicht auf die Vererbung bzw. deren Erforschung. Die komplette Entwicklung seit dem Mittelalter wird nach gezeichnet.

Layout und Gestaltung

Irritierenderweise ist der Text noch in alter Rechtschreibung verfasst. Die Schrift hätte durchaus einen Grad größer sein können, das Lesen der kleinen Buchstaben ist ein wenig ermüdend. Auch wäre es eine gute Idee gewesen, die sehr zahlreichen Zitate kursiv oder durch einen anderen Schrifttyp hervor zu heben. Leider fehlen Schaubilder und Tabellen komplett, in Form von chemischen Formeln, Zeittafeln usw. wären sie wahrlich angebracht. Ein Glossar fehlt ebenfalls, was das Buch für den interessierten Laien (leider!) mehr oder weniger ungeeignet macht. Mit allergrößter Sorgfalt allerdings sind die Zitate recherchiert und am Ende eines jeden Kapitels nachgewiesen; eine sehr gute Idee ist auch das alphabetische Verzeichnis aller besprochenen Wissenschaftler mit den respektiven Seitenzahlen.

Stil

Hier mögen sich die Geister scheiden: Er ist Essay-artig, die Ausdrucksweise entspricht eher der eines Geisteswissenschaftlers, ab und an gewürzt mit einer Prise trockenen Humors, welcher eher britisch denn französisch anmutet. Die meisten Sachverhalte hätte der Autor kürzer und vor allem prägnanter auf den Punkt bringen können, was Lesespaß und Vermittlung deutlich einschränkt und den Leserkreis (wiederum leider!) weiter einengt - Beispiel von einem willkürlich heraus gegriffenen Blatt (S.99/100): "Nachdem einmal die Wesen von den anderen Körpern losgelöst, doch unter sich durch die Organisation vereint sind, stellt sich das Problem der Genese der belebten Welt nicht mehr in denselben Begriffen wie das der unbeseelten Welt. Um mit Lamarck zu sprechen, können jetzt nicht mehr alle oder der größte Teil der lebenden Formen als in ihrer Kompliziertheit gleichzeitig geschaffen betrachtet werden." (...) "Über die Unterschiede Formen, Eigenschaften und Lebensbereiche hinaus handelt es sich darum, die dem Lebenden gemeinsamen Kennzeichen freizulegen und dem forthin mit Leben Bezeichneten einen Inhalt zu geben." (...) "Um die Natur zu dechiffrieren und ihre Gesetze zu finden, genügt es nicht mehr, Gleichheit und Ungleichheit von Dingen sowie Lebewesen zu erforschen und zusammenzustellen, um diese beiden letzteren in den Reihen einer zweidimensionalen Klassifikation unterzubringen.". Auf den 'durchschnittlichen' Leser wirkt so etwas schlicht ermüdend.

Inhalt

Das Buch zeichnet die Entwicklung der Biologie nach, insbesondere die Erforschung der Vererbung. Dem Autor geht es dabei nicht nur um narratives Aufzählen von Daten und Ereignissen: Mit größter Sorgfalt beleuchtet er dabei den Einfluss des jeweiligen "Zeitgeistes" auf die Forschung sowie die Ideenwelt, die dahinter steht. Auch (und gerade!) der fachkundige Leser wird Dinge über die Biologie und ihren Werdegang lernen, von denen er nichts ahnte. Nur ein einziges Versäumnis ist zu beklagen, dieses allerdings im Rang einer Todsünde: Das Buch ist eine "ungekürzte Neuausgabe 2002" der Erstausgabe von 1970. Leider ist es nicht aktualisiert worden, daher wird Charles Darwin berechtigterweise gebührend abgehandelt, der Name Richard Dawkins hingegen kommt nicht vor. Wahrlich viel hat sich getan in der Biologie in den letzten 32 Jahren: RNA-Splicing und -editing, genetic imprinting, Entwicklung der PCR-Methode, sequenzierte Genome und vieles, vieles andere mehr. In einer sich aktuell so schnell entwickelnden Wissenschaft ist es eigentlich eine Frechheit, das Buch nicht noch um zwei oder drei Kapitel zu ergänzen und statt dessen die letzen Jahrzehnte einfach zu unterschlagen! Wohl gemerkt: Dieser Vorwurf richtet sich vornehmlich an den Verlag, nicht an den Autor.

Sachliche Richtigkeit:

Die Recherche des Autors war offenbar sehr gründlich; Widerspruch regt sich daher an nur sehr wenigen, minder-wichtigen Punkten. Sie zu monieren wäre Erbsenzählerei und unterbleibt daher. Im letzten Kapitel behandelt Jacob die verschiedenen Ebenen des Lebens (Atome / Moleküle / Gene / Zellen / Organismus etc.) und ihre Integration in der jeweils nächst-höheren Ebene. Es ist sehr interessant fest zu stellen, dass er damals bereits Ideen angedacht hat, die Richard Dawkins einige Jahre später in seiner Mem-Theorie formulierte. Allerdings ist angesichts der nicht erfolgten Aktualisierung des Buchs gerade dieses Kapitel total veraltet und - in Rückschau und nach heutiger Kenntnis - an etlichen Stellen sachlich unrichtig. Völlig naiv äußert er sich ganz am Ende zum dem Thema, das man heute "genetic engineering am Menschen" nennen würde. Wiederum kein Vorwurf an den Autor selber, damals waren die damit verbundenen, ethischen Probleme überhaupt nicht absehbar. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass man dergleichen ohne Überarbeitung nicht neu auflegen dürfte.

Zielgruppe

Das Buch ist jedem Biologen an zu empfehlen, des weiteren ist es sicherlich auch für Historiker oder andere Geistes- / Gesellschaftswissenschaftler von Interesse.

Fazit

Das Buch ist zu empfehlen, u.a. weil es den Blick für die Wechselwirkung Wissenschaft / Erkenntnis - Gesellschaft / Zeitgeist öffnet. Wer Schreibstil mag oder sich dadurch nicht abschrecken lässt, findet ein absolut lesenswertes und intellektuelles Werk vor, das sich wirklich lohnt. Man wünscht sich eine weitere, aktualisierte und "Breiten-taugliche" Auflage.

Oktober 2002, Dr. Andreas Beyer


Rezension "Das Buch des Lebens - wer schrieb den genetischen Code?" von Lily E. Kay, Hanser-Verlag München 2001.

Punktewertung (5x5 Score):
Inhalt: 2 (von 5)
Vermittlung 1 (v. 5)
Verständlichkeit 1 (v. 5), Lesespaß 2 (v. 5); Preis-Leistung 2 (v. 5).

Thema

In "Das Buch des Lebens - wer schrieb den genetischen Code?" erzählt Frau Kay die Geschichte der Aufklärung des Codes. Akribisch und mit hoher Detailkenntnis zeichnet sie die Entwicklung während des gesamten 20 Jh. nach: von der Protein- zur DNA-Hypothese der Vererbung, Aufklärung des Triplett-Codes, Anwendung der Kybernetik und der Informationstheorie auf Probleme der Genetik. Ergänzt ist das Buch durch 841 Anmerkungen und Zitate, eine 43-seitige Bibliographie und 20 Seiten Stichwortregister. Und damit ist schon alles Positive gesagt, was man über das Buch sagen kann.

Zielgruppe

schwer zu bestimmen. Die biologischen Experimente werden allesamt angeführt, aber nicht erklärt. Die wenigen Abbildungen dienen nicht der inhaltlichen Verdeutlichung, sondern werden lediglich im historischem Kontext angeführt. Daher können ausschließlich Biologen / Mediziner dem fachlichen Faden folgen. Der Text allerdings entspricht dem Vorurteil 'typisch geisteswissenschaftlich': künstlich und unnötig kompliziert - willkürlich heraus gegriffene Zitate: "Schrödinger perpetuierte bloß wissenschaftliche und kulturelle Resonanzen der Moderne". (S.102) - "Die Kapillaren der Macht durchdrangen den materialen und symbolischen Raum, in dem sich Information, Kybernetik und Leben neu konstituierten; umgekehrt dienten diese neuen Modi der Bezeichnung dazu, die Zirkulation der Macht aufrechtzuerhalten und zu naturalisieren." (S.116) - "Die Sexualität befindet sich am Scharnier der Bio-Macht-Achse. Über sie ist die Kontrolle der Körper mit der Kontrolle der Bevölkerung verknüpft. Während die staatlichen Institutionen der Macht, darunter Regierung, Industrie, Universitäten und Stiftungen die Aufrechterhaltung der Produktion gewährleisten, sorgt die Bio-Macht auf jeder Ebene des Gesellschaftskörpers - Familie, Kirche, Arbeitsplatz, Armee, Krankenhäuser, Schulen, Polizei und Selbsttechniken (??) für die diskursiven und materiellen Praktiken." (S.42). Aber keine Panik: So etwas muss man nicht verstehen...

Didaktik und Gedankenführung

Die Autorin begeht eine journalistische Todsünde: Es wird zwischen Kommentar, Fakt und Wertung nicht getrennt; Geschichte, Technologie, politische Bewertung - alles geht bunt durcheinander. Die Wortwahl ist z.T. sehr demagogisch (wiederum willkürlich heraus gegriffen, S.128,129): "Haldane, ein enthusiastischer Kybernetik-Konvertit" - "Enthusiastisch und unkritisch machte er sich kybernetische und Informationsbegrifflichkeiten zu eigen". Womit solch abwertender Tenor gerechtfertigt ist, erfährt der Leser allerdings nicht.

Einige nicht unerhebliche sachlich Fehler sind Frau Kay unterlaufen: Z.B auf S.19 behauptet sie, die Häufigkeiten von Aminosäuren (gemeint ist vermutlich deren Auftreten in Proteinen) entspräche nur einer Zufallsverteilung - solch Unfug dürfte einer Molekularbiologin nicht aus der Feder fließen. Die Formel für Informationsgehalt ist die falsche (S.141); dann behauptet sie, nach Shannon steige der Informationsgehalt eines Signals mit der Wahrscheinlichkeit seines Auftretens. Das Gegenteil ist richtig. Die auf S. 261 gegebenen Definitionen von Teleologie ("unbegrenzter Anpassungsprozess der Organismen") und Teleonomie ("Anpassung bloß aufgrund von Aktivierung gespeicherter Information") sind völlig abwegig. Erster Begriff bedeutet "zielintendiert" - biologische Anpassung wäre demnach ein Zeichen der Intelligenz eines Schöpfers; der zweite heißt "zielgerichtet" - Anpassung ist der Output von Evolution. Kaum vorstellbar, dass Frau Kay die wahre Bedeutung der Begriffe nicht kennt, warum sie hier ihre Privatdefinition anwendet, bleibt nebulös.

Inhalt

  1. Die Autorin will untersuchen (S10-12), ob die Sicht des "geschriebenen Genoms" "objektivistisch" sei (die Natur, die Evolution war "Autor"), "konstruktivistisch" sei (Wissenschaftler waren die "Autoren", die Beschreibung des Genoms als "Text" ihre Erfindung, die keine Entsprechung in der Natur hat) oder "dekonstruktivistisch / poststrukturalistisch", sei (so eine Art 'Mittelding'). Dem Leser wird sofort mitgeteilt, dass die objektivistische Sichtweise unzutreffend sei, man erfährt aber nicht, welche Variante sie für zutreffend hält.
  2. Dann behauptet sie, die Informationstheorie habe "den Begriff der Information selbst in eine Methapher verwandelt", die "Bedeutung sinnvoller Kommunikation" sei "umgestürzt" (S.43-45). "Ihres technischen Inhalts entleert, wurde Information zur Methapher einer Methapher, zu einer Bedeutung ohne Referent. ... Diese Vielfalt von Bedeutungen, Bedeutungsverschiebungen, Definitionsverwischungen und Aporien führte zu einer Destabilisierung der Gültigkeit und Vorhersagekraft der genomischen Schrift." (S.35). (S.178) Weiter beklagt sie den "Niedergang der Semantik" (Kapitelüberschrift S.135), verursacht durch Shannons Informationstheorie. Kurz, sowohl die statistische Informationstheorie als Ganzes wie auch die Rede von einem genetischen Code sei eigentlich sinnlos.
  3. Ein Code sei, so die Autorin, definitionsgemäß "eine Beziehung oder ein Satz von Transformationsregeln zwischen einem verständlichen sprachlichen Text und einem Text in Geheimschrift, einem Kryptogramm, er operiert immer mit definierten sprachlichen Entitäten" (S.35). Ergo konnten, so die Autorin, "selbst die leistungsstärksten Computertechnologien zur Kryptoanalyse den sog. genetischen Code nicht entschlüsseln, denn technisch gesehen sei es ja gar kein Code." - "Die Darstellungen des Genoms als Information halten also strenger Überprüfung nicht stand. Vom linguistischen und kryptoanalytischen Standpunkt aus gesehen ist der Code kein Code." (S.24 & S31).
  4. Der Begriff "genetische Code" sei ein "Epochenstück", ein "Anzeichen für das Auftauchen des Informationszeitalters." (S.19), verursacht durch den starken Einfluss militärischer Institutionen auf die Forschung "Genetischer Code und Kalter Krieg" (S.28, Kapitelüberschrift) - "... kann der genetische Code als Teil der kulturellen Erfahrung des Kalten Krieges angesehen werden, insofern er ein Leitsymbol biologischer Befehls- und Kontrollgewalt darstellt." (S.28). Die meisten Wissenschaftler seien sich der Verwendung "des Informations-Idioms nicht bewusst" gewesen, aber es gebe "keine unschuldigen Bezeichnungen" (S.314)
  5. Alles in Allem sei die Einbeziehung der Informationstheorie und Kybernetik in die Biologie komplett sinnlos, sie wird bezeichnet als "verführerischer Flirt", der so geführte Diskurs u.a. als "rhetorische Werkzeuge", "diskursives Zurschaustellen auf Kongressen", einen "verdächtig eleganten Eindruck" erweckend. Führende Molekularbiologen hätten "ihren Status selten allein durch Wissenschaft erlangt", sondern durch "Rhetorik, Beredsamkeit, politisches Geschick, sarkastischen Witz und enormes Glück" (S.36ff - eine Frechheit, die zu kommentieren sich erübrigt).
  6. Doch nicht genug damit - wissenschaftliche Diskussion, so Frau Kay, konzentriere sich "fast ausschließlich auf Probleme der Theoriekonstruktion, und nicht auf die materiale Praxis", wissenschaftliche Revolutionen seien "in Wirklichkeit nur Metaphernrevolutionen (S.45-47). "Diskurse stellen kulturell Wirksamkeit mittels Bedeutungsregimen her. ... Zu den Bedeutungsregimen gehören ferner die Mechanismen, durch die wahre von falschen Aussagen unterscheiden lassen, sowie die entsprechenden Sanktionsmittel (...) sowie schließlich der Status derer, die dafür verantwortlich sind zu sagen, was als wahr gilt (...). Wissen wird demnach generiert durch ein System geordneter Verfahren zur Produktion, Regulation, Zirkulation und Funktionsweise von Aussagen. Die Produkte von Wissenschaft und Technik sind soziotechnisch, sie funktionieren, weil sie nicht nur in materiellen Praktiken eingebettet sind, sondern auch in kulturellen Praktiken, die ihrerseits die Techniken zur Wissens- und Machtproduktion stabilisieren und naturalisieren. Im Falle des genetischen Codes ist dies die Bio-Macht." (S.41). Frau Kay sieht nur einen abgesprochenen, konzertierten Prozess, der letztlich allein auf Übereinkünfte hinaus läuft: Z.B.: Um DNA zum alleinigen Träger biologische Information zu machen(!!), wäre der Begriff 'Information' von einem rein stochastischen Prozess (!!), unabhängig vom Medium, stillschweigend umdefiniert worden zu einem Medium, das seine eigene Bedeutung mitbrächte. (S.235). Oder: (das lange Beharren auf Proteinen als Erbträger) "ist ein wichtiges Beispiel dafür, wie Verpflichtungen auf ein Paradigma manche Linien wissenschaftlicher Untersuchungen verhindern können." (S.246).

Wie auch immer, unter zu großer Bescheidenheit litt Frau Kay jedenfalls nicht: "Meine historischen Untersuchung könnte dazu dienen, die Rolle der DNA als treibende Kraft der ganzen subtilen Vielfalt des Lebens, von Archaeopterix zu den thermophilen Microorganismen, weiter in Frage zu stellen." (S.14)

Sachliche Richtigkeit:

Mehrere schwere Fehler stecken in dieser Argumentationslinie.

Noch etliches mehr ließe sich anführen, aber davon sei Abstand genommen - zurück zur Kernfrage des Buchs (Ad 1.), wer schrieb ihn denn nun, den genetischen Code? Wenn Leben geschrieben ist, wer schrieb diese Texte dann? Was ihr Ursprung wäre, und wie es möglich sei, dass die Texte "den Darstellungsweisen vorangingen, die sie entstehen ließen", will sie wissen, und bringt "theistische Interpretationen der Sequenz als Urwort ins Spiel". Dass dem Begriff "Evolution", der diese Frage glatt und logisch beantwortet, keine 2 Seiten gewidmet werden, dass er nicht erklärt und diskutiert wird, ist unverzeihlich. Da kann man nur sagen: Thema verfehlt - ungenügend!

Fazit:

Frau Kay hat ein hochinteressantes Thema gewählt; und sie scheint sowohl von ihren biologischen wie auch ihren geisteswissenschaftlichen Kenntnissen her über die Expertise zu verfügt zu haben, es adäquat zu bearbeiten. Diese Chance hat sie leider vollkommen vertan, weil sie mit einer vorgefertigten, fundamentalistischen, dogmatischen Einstellung an das Thema heran ging. Erster Schritt hätte sein müssen, sachlich die Entwicklung zu referieren. Querbezüge zu anderen Wissenschaften hätten nüchtern dargestellt werden müssen. Danach sollte sich eine Betrachtung des sozialen Kontexts anschließen. In diesem Zusammenhang hätte dann erörtert werden können, welche Erwartungen die neuen genetischen Erkenntnisse weckten, und wer für das Bild der Biologie in der Öffentlichkeit verantwortlich war und ist (Wissenschaftler? Medien? Politiker? Die Industrie?). Welche Neuerungen in der Biologie hatten Bestand, welche nicht, und warum? All dies wurde vertan, ging unter in einer negierenden Kakophonie.

Was lehrt uns das alles? Nun, Wissenschaftler sollten es eigentlich als ihre Pflicht betrachten, einem Laienpublikum regelmäßig über ihr Fach und ihre Arbeit zu berichten, sei es in Schulen, Kirchengemeinden, Volkshochschulen, Karnickelzüchterverein oder wo auch immer! Ansonsten nämlich überlassen wir die öffentliche Diskussion Astrologen, Pendlern, Erdstrahlenfachleuten, Kreationisten, Kulturrelativisten und Consorten. Und wenn wir nicht die Öffentlichkeit informieren, wer soll es dann tun? Dieses Buch (und ähnliche) als Pflichtlektüre für all die Wissenschaftler, die meinen, im Elfenbeinturm vor sich hin arbeiten zu können, das wäre schon sinnig... Ansonsten ist das Werk absolut nicht zu empfehlen, aber vielleicht nimmt sich ja irgendwann ein anderer Autor des Themas an...

März 2003, Dr. Andreas Beyer


Rezension "Das kooperative Gen", Joachim Bauer, Hoffmann & Campe, 2008

Noch 'ne Rezension?

Sicher, es gibt bereits eine ganze Reihe von Rezensionen über dieses Buch - aus der Fachwelt fast nur negative. Es gibt dennoch einen Grund, dieses Buch nicht "abzuhaken", sondern sich weiter damit zu befassen: Bauer hat es mit einem ganz erheblichen medialen Aufwand bewerben lassen, es wurde in mehreren Artikeln vorab (z.B. von Bauer selbst in einem Artikel in "Psychologie heute" - "Darwin als Psychologe") angekündigt. Dies hat dazu geführt, dass dieses Buch in der Öffentlichkeit intensiv wahrgenommen wurde und von Laien für ein sachlich fundiertes Fachbuch gehalten wird. Dies gilt es kritisch zu hinterfragen.

Das Buch

Bereits im Klappentext verkündet Bauer: "lang gepflegte Darwinistische Dogmen" seien "unhaltbar" geworden, seien "Phantasieprodukte". Stattdessen seien Gene "kreative und kooperierende" Akteure. Schon hier, bereits durch diese höchst polemische Wortwahl wird klar, dass dies kein wissenschaftlich-sachliches Werk, sondern ein Kampftext ist. Und so ist das ganze Buch durchsetzt von zutiefst abwertenden Angriffen auf Vertreter der Standard-Evolutonstheorie ('StET'),denen er "Engstirnigkeit", "fanatische Anhängerschaft", "quasi-Religiosität" vorwirft - all die Titulierungen einer Demagogie, derer sich sonst nur fanatische Wissenschaftskritiker oder fundamentalistische hardcore-Kreationisten beim Angriff auf die StET bedienen.

Bauers Kern-Konzept findet sich auf S. 17: Gene folgten, so glaubt er, den Grundprinzipien "Kooperativität", "Kommunikation" und "Kreativität". 'Kreativität' meint er dabei ganz wörtlich, durch das ganze Buch ziehen sich Formulierungen, in denen Bauer den Genen eine "aktive und planende Rolle", und zwar "jenseits des Zufalls" mutativer Veränderungen zuschreibt. Kein Zweifel: Bauer ist 'Gen-Lamarckist', eine Unterscheidung zwischen Teleonomie und Teleologie wird nicht getroffen. Dass solche Ideen im Grunde seit Jahrzehnten - im Grunde seit August Weismann - widerlegt sind, scheint Bauer nicht zu wissen (obwohl er auf S.26 dessen Arbeiten sogar erwähnt). Nach Bauers Idee sind Transposons diejenigen Elemente, welche diesen "aktiven und nicht-zufälligen" Umbau des Genoms bewerkstelligen. Leider erfahren wir im gesamten Buch nicht, wie er sich dies auf molekularer Ebene vorstellt. Sollen Bauers Meinung nach Organismen (oder Gene oder Genome oder Zellen oder Populationen) monatliche Bestandsaufnehmen machen und im Falle von Krisen (demokratisch?) beschließen, das Genom umzubauen? Wer, wenn diese Prozesse gem. Bauer ja nicht-zufällig sind, plant das? "Hey, Gen-Kollegen, es wird Zeit, dass wir mal endlich Hox-Gene erfinden, dafür müssen wir diese & jene Duplikationen und Translokationen vornehmen!" Die Zelle, das Gen, das Genom? Wie, mit welchen Mitteln, über welche kausalen Vorgänge? Wer prüft die geplanten und ausgeführten Veränderungen? Die Umwelt jedenfalls nicht, denn Bauer mag Selektion ebenso wenig wie "zufällige Mutation", wie er quer durchs Buch immer wieder betont. Schon ein kurzes Nachdenken zeigt, wie absurd und bodenlos Bauers Ideen sind. Entsprechend bleiben diese Fragen unbeantwortet. Nun, Bauer sei "The Origins of Genome Complexity" von Michael Lynch sowie dessen Originalpublikationen empfohlen, da kann er nachlesen, was es mit repetitiven Genomanteilen auf sich hat.

Die sachlichen Fehler - viele von ihnen gravierend und demagogisch ausgeschlachtet - sind zahlreich.

Dawkins' Theorie des egoistischen Gens

Einen wichtigen Teil des Buchs nimmt der Angriff auf Dawkins' Theorie des egoistischen Gens ein (Bauer bezeichnet auf S. 37 Dawkins' Buch als "Science-Fiction Weltbestseller" - diese Wortwahl hat mit wissenschaftlichem Disput wahrlich nichts mehr zu tun). Dagegen zu opponieren ist an sich in Ordnung, allerdings sollte man etwas, was man kritisiert, auch verstanden haben und sich nicht darauf beschränken, sich mit aller Polemik daran verbal abzuarbeiten. Die Theorie des egoistischen Gens entstammt mitnichten der Soziobiologie [S.19]. Und nach Dawkins sind Gene natürlich nicht nur einfach "gegeneinander agierende Akteure" [S.19]. Der Kontext der kurzen Erwähnung der Dawkins'schen Replikatoren auf S.35 zeigt, dass Bauer dieses Konzept nicht verstanden hat. Insbesondere hat er nicht begriffen, dass und warum 'genetische Kooperativität' und Dawkins'scher 'Gen-Egoismus' zueinander nicht im Widerspruch stehen.

Wer war Charles Darwin?

War er [S.18,21] "ein großer Aufklärer unseres wissenschaftlichen Zeitalters"? Ein "unpolemischer Mensch" [S.21]? Jemand, der "[tolerant] eine wissenschaftliche Position bewahrte" [S.192]?

Oder war er "Sozialdarwinist" und "Feind des Sozialstaates"? So will es Bauer mit einem aus einem Zusammenhang gerissenen Zitat Darwins [S. 16] belegen, womit er das insbesondere von Kreationisten verbreitete Märchen, Darwin sei Sozialdarwinist gewesen und die Genozide des 20. Jh. eine Konsequenz des Darwinismus, stützen will. Nun, wahr ist das Gegenteil, und in diesem Zusammenhang empfiehlt sich die Lektüre von Darwins 'Abstammung des Menschen' sowie seinen mehr als deutlichen Äußerungen zur Sklaverei in seinen Reiseerinnerungen. Mehr soll zu diesem bodenlosen Unfug hier nicht gesagt werden.

So, was von beidem war Darwin denn nun? Beides vielleicht, also ein "sozialdarwinistischer Aufklärer", das wäre ja mal etwas ganz neues, so etwa wie ein "faschistischer Menschen- und Bürgerrechtler"

Bauers Expertise

Am Ende des Buchs ist eine Liste mit allen wissenschaftlichen Publikationen Bauers aufgeführt - und die ist beeindruckend. Er kann Arbeiten aus den Bereichen Immunologie, Neurobiologie sowie Psychiatrie und insbesondere den Grenzbereichen dazwischen vorweisen. Irritierenderweise ist keine einzige Publikation aus dem Bereich Evolutionswissenschaften dabei. Wie ist es möglich, dass ein Mensch, der über keinerlei Fachexpertise verfügt, einem ganzen Wissenschaftszweig erklären will, wo's lang geht? Ein mehr als pikanter Aspekt herbei ist dieser: In einigen der Publikationen geht es um 'Mutationen', 'Missense Mutationen', 'Allelfrequenzen' - also Phänomene, die fester Bestandteil der von Bauer so leidenschaftlich bekämpften StET gehören.

Joachim Bauer - ein Kreationist?

Um es ohne Umschweife zu sagen: Er ist keiner. Und zu Recht moniert er, dass in der öffentlichen Diskussion an etlichen Stellen ein Schubladen-Denken zu beklagen ist (allerdings hätte er fairerweise hinzu fügen müssen, dass dies bei Kreationisten mindestens ebenso häufig zu konstatieren ist). Offenbar befürchtet er, von Kritikern und Rezensenten in die Kreationsmus-Ecke gestellt zu werden - nicht zu Unrecht, aber dafür trägt er selbst die Verantwortung. Wer dermaßen inkompetent und polemisch vorgeht und dabei Argumentationsmuster verwendet, wie sie für Kreationisten typisch sind, der darf sich nicht beschweren, wenn er dort (unzutreffenderweise) verortet wird. Und dass Bauer die Kreationisten Junker und Scherer im Kontext der ET als "namhafte Forscher" bezeichnet [S.29], und als wissenschaftliche Quelle zitiert [S.205], das ist schon ist dicker Hund.

Überhaupt ist Bauers Umgang mit Zitaten fragwürdig, so benennt er z. B. Barbara McClintocks Nobel Prize lecture (1983, "the significance of responses of the genome to challenge", s. www.nobelprize.org) immer wieder als Beleg für seine Thesen für programmierte, aktive Antwort des Genoms auf Stressoren. In der zitierten Vorlesung findet man allerdings die Sätze "Many known and explored responses of genomes to stress are not so precisely programmed. Activation of potentially transposable elements in maize is one of these.". Hier hat Bauer offenbar nur das aus dem Text heraus gelesen, was ihm in den Kram passt.

Ein anderer Kronzeuge, den Bauer oft und gerne in seinem Buch zitiert, Jürgen Brosius, hat sich im Rahmen eines Interviews für Bild der Wissenschaft (Epping 2009) von Bauers Ideen distanziert - dort lesen wir:

Die Nachteile [der Transposons] scheinen zu überwiegen. "Meistens passiert nichts, manchmal schaden sie Organismen, und noch seltener kommt per Zufall durch ihre Aktivität etwas Nützliches heraus", betont Jürgen Brosius. (...) Stehen Transposons am Ende gar Pate für die Entstehung des Menschen? "Unsere Evolution ist ein stetiges Wechselspiel mit mobilen genetischen Elementen gewesen", meint Jürgen Brosius vorsichtig. Manchmal werde da zu viel hineininterpretiert. "Keinesfalls erlauben mobile genetische Elemente eine zielgerichtete Evolution, wie derzeit manchmal zu lesen ist. Darwin ist nach wie vor gültig." Transposons agieren blind, rein zufällig im Genom. (eigene Hervorhebung)

Diese Äußerung von Brosius passt ganz und gar nicht zu den Zitaten, die Bauer von ihm anführt: Offenbar pickt sich Bauer nur das heraus, was ihm passt, ohne jede Rücksicht auf den Zitat-Zusammenhang.

Fazit

In diesem Buch sind schwerste Mängel festzustellen, von der Wortwahl bis zum Inhalt (und hier ist nur ein kleiner Teil davon thematisiert worden):

Bauer ist ein Laie auf dem Gebiet der ET - was an sich noch nichts besagt: auch Hoimar v. Ditfurth war kein Evolutionsbiologe und hat dennoch hervorragende Sachbücher über das Thema geschrieben. Bauer fehlt jedoch die notwendige Sachkenntnis, er hat noch nicht einmal die Grundprinzipien 'Mutation' und 'Selektion' verstanden. Da ist es schon reichlich anmaßend, wenn er (a) als Außenseiter und (b) als vollkommen fachfremder dem "Mainstream" zeigen will, wo's lang geht.

Das eigentlich fatale am Buch ist das Bild der Wissenschaft, welches Bauer zeichnet: Erstarrte Dogmen, immer wieder unterbrochen von Revolutionen. Mit diesem Nonsens liefert Bauer sehenden Auges "Argumente" für Wissenschaftskritiker jeglicher Couleur. Genau genommen gibt es praktisch nichts Positives, was es über sein Buch zu sagen gäbe. Wer dies (und weitere Formulierungen der vorliegenden Rezension) für polemisch hält, dem sei die Lektüre von Bauers Buch empfohlen - er stellt meine Wortwahl weit in den Schatten. Und wenn er auf S.193 all denen, die seinen absurden Thesen nicht folgen wollen, einen "biologistischen Allmachtsanspruch" unterstellt, "wie er in unsrem Lande bereits zwischen 1870 und 1945 zu beobachten war", so ist dies einfach nur abstoßend, derlei Polemik hat in der Wissenschaft nichts verloren.

Prof. Dr. Andreas Beyer, 07.09.2009

Literatur

Epping B. (2009): "Das große Springen", Bild der Wissenschaft, Sept.'09: 38-47