Therapeutisches Klonen

die Technologie und Ansätze zu einer ethischen Bewertung

Beyer A, 2001
in: CA Confessio Augustana 3: S.45-52. Freimund-Verlag, 91561 Neuendettelsau

Wir altern, und unser Körper verschleißt - aber oft ungleichmäßig. Manchmal versagen Organe, krankheits- oder unfallbedingt, schon früh ihren Dienst. Sie müssen dann entweder amputiert oder durch ein Transplantat (Beispiel: Lunge, Herz, Leber, Niere) ersetzt werden. Dabei ergibt sich ein Problem: Auf unseren Zellen gibt es so etwas wie "molekulare Personalausweise" (Membranproteine) deren Muster bei jedem Menschen einzigartig wie der Fingerabdruck ist. So kann unser Immunsystem ein Spenderorganen als "fremd" erkennen und angreifen. Es kommt zur gefürchteten Abstoßungsreaktion! Vermeiden ließe sich dies nur, wenn man dem Körper "eigenes" Material anbietet, also letztlich Teile von ihm selbst: Man müsste eigentlich nur Körperzellen dazu bringen, das beschädigte Organ neu zu bilden. Aber hier wartet die nächste Hürde: Die meisten Zellen im erwachsenen Körper sind kaum mehr teilungs- und vermehrungsfähig, sie können keine neuen Gewebe mehr hervorbringen. Also was tun? Die (potenzielle) Lösung heißt "Stammzellen".

Regeneration beschädigter Körperteile

Stammzellen sind Zellen, die 1. noch teilungsfähig sind und die 2. die Fähigkeit haben, durch Teilung unterschiedliche Sorten von Körperzellen hervorzubringen. Dabei ist ihr Produkt-Spektrum sehr unterschiedlich: Stammzellen aus der Augenhornhaut sind mehr oder weniger auf die Bildung von Hornhautzellen festgelegt, während die Stammzellen aus dem Knochenmark mehr als ein Dutzend verschiedene Sorten unterschiedlichster Blutzellen bilden können. Am flexibelsten sind sog. embryonale Stammzellen, gewonnen aus sehr frühen Embryonen. Stammzellen kann man im Labor vermehren und dazu bringen, sich je nach ihrer "Potenz" (= ihrem möglichen Produktspektrum) zu "differenzieren" (zu entwickeln). So kann man bereits heutzutage für Brandopfer Ersatzhaut in der Petrischale wachsen lassen, die Erzeugung von Blutgefäßen oder Augenhornhaut erscheint zumindest machbar.
Was jedoch immer wieder durch die Medien geistert, nämlich das Züchten ganzer Organe im Labor, ist illusorisch. Realistisch hingegen ist die Regeneration direkt im Körper selbst: Gewonnene Stammzellen mit der Kompetenz zur Bildung des betreffenden Gewebes werden re-transplantiert, das heißt, in das beschädigte Organ gespritzt, wo sie sich selbständig einbauen und die Schäden heilen, sofern das Organ nicht völlig zerstört ist.

Woher kommen Stammzellen?

Mehrere Quellen sind nutzbar:
Isolation von eigenen Stammzellen aus dem Patienten selbst ("adulte Stammzellen"). Sie sind auf jeden Fall bei 'wieder-Einpflanzung' verträglich, allerdings sind sie wohl in vielen Fällen nicht flexibel genug.
Nutzung von "embryonalen Stammzellen", gewonnen aus Nabelschnurblut, spontanen Fehlgeburten, abgetriebenen Föten oder überzähligen Embryonen aus künstlichen Befruchtungen. Solche Zellen sind noch hochflexibel. Sie können alle Arten von Körperzellen bilden (sie sind "pluripotent"), können aber keinen Fötus mehr bilden, sind also nicht mehr "totipotent": Es ist gelungen, aus ihnen gezielt die unterschiedlichsten Arten von Zellen wachsen zu lassen. Um ein Missverständnis auszuräumen: Manche embryonalen Stammzelllinien entstammen tatsächlich abgetriebenen Föten und überzähligen Embryonen aus der Reproduktionsmedizin. Weil sie jedoch in Kultur unbegrenzt vermehrbar sind (manche Stammzellkulturen sind mittlerweile 10 Jahre alt!), ist ihre Beforschung nicht mehr mit Vernichtung menschlichen Lebens verbunden. Deshalb erlaubt der Gesetzgeber konsequenterweise nicht ihre Erzeugung, wohl aber Import und Verwendung in der Forschung.
Mit der Verwendung embryonaler Stammzellen hat man aber immer noch nicht das Problem der Abstoßung durch den Empfänger gelöst, und dafür wurde therapeutisches Klonen vorgeschlagen.

Therapeutisches Klonen

Dabei müssten embryonale Stammzellen entkernt werden (und damit ihre eigene genetische Information entfernt); danach müsste ein Zellkern des Patienten in die Stammzelle transferiert werden. Diese "umprogrammierten" Zellen würden dann in Kultur vermehrt und schließlich dem Patienten verabreicht. Die Hoffnung ist, die Zellen bleiben pluripotent, also fähig, die verschiedensten Gewebe zu bilden bzw. zu "reparieren". Der Vorteil läge darin, dass das entstehende Gewebe vom Immunsystem des Patienten anerkannt und nicht attackiert würde.
Das Verfahren ist bisher nur bei Tieren erprobt worden: so entstand das Klonschaf Dolly. Das für medizinische Zwecke vorgeschlagene Verfahren soll ähnlich funktionieren: Eizellen einer Spenderin werden entkernt und der Zellkern eines Patienten transferiert. Danach stimuliert man die Zelle zur Teilung. Im 16- bis 100-Zell-Stadium bricht man jedoch die Entwicklung ab und gewinnt die embryonalen Stammzellen, die nun genetisch dem Patienten entsprechen.
Der Knackpunkt des Verfahrens ist, dass es über eine kurze, totipotente Phase läuft, d.h. es könnte aus der umprogrammierten Eizelle theoretisch ein Klon-Bruder des Patienten entstehen. Deshalb gelten adulte Stammzellen als unproblematisch, denn sie können sich nicht zu einem Menschen entwickeln.
Kritiker sagen, mit dem therapeutischen Klonen würde menschliches Leben vernichtet. Befürworter argumentieren, dass eine Körperzelle des Patienten nichts anderes tut als das, was sie sonst auch täte, nämlich andere Körperzelle eines Menschen zu bilden. Des weiteren weisen sie darauf hin, dass weniger als 1% der so hergestellten Zellen sich tatsächlich zu einem lebensfähigen Organismus entwickeln können; sowie, spitzfindig gesagt, dass es sich hier um einen "Mord ohne Leiche" handelt, weil kein toter Embryo anfällt. Moderate Diskutanten mahnen eine Güterabwägung an zwischen einem menschlichen Organismus in frühestem Stadium und dem Patienten.
Die Grenze zwischen der Verwendung adulter Stammzellen (allgemein als ethisch unbedenklich erachtet, weil nicht-totipotent) und therapeutischem Klonen (über eine totipotente Phase verlaufend, daher ethisch bedenklich) erscheint heutzutage klar definiert. Übersehen wird dabei allerdings, dass fast alle Körperzellen das komplette Genom besitzen - vielleicht gelingt es ja in einigen Jahren, adulte Zellen so zu stimulieren, dass sie wieder totipotent werden? Damit wäre das Abgrenzungskriterium "Fähigkeit, sich zu einem Fötus zu entwickeln" hinfällig. Aber was die Zukunft an Erkenntnis bringt, lässt sich kaum sagen. Die Erzeugung ganzer Organe liegt noch in weiter Ferne. Ob das therapeutische Klonen überhaupt so durchführbar ist, ist unklar. Ob sich andererseits adulte Stammzellen als verwendbar erweisen werden, ist völlig offen. Ob sich also die hohen Erwartungen erfüllen werden, die manche an diese Technologien knüpfen, steht in den Sternen.
Abschließend bleibt zu bemerken, dass es Erbdefekte und degenerative Erkrankungen gibt, die nicht anders zu heilen oder zu lindern sein würden als über Stammzellen. Solche Erkrankungen sind auf dem Vormarsch, allein schon aufgrund der ständig steigenden Lebenserwartung. Salopp gesagt, haben früher viele Menschen ihren Parkinson oder Alzheimer schlichtweg nicht mehr erlebt. Und ein letzter Punkt bleibt zu bedenken: Auch wenn wir uns entschlössen, auf embryonales Material gänzlich zu verzichten, ist man auf Embryonenforschung angewiesen, um die Organbildungsprozesse überhaupt verstehen und steuern zu können.

Traditioneller Ethik und innovative Technologie

Wir leben in einer Zeit, in der sich die Lebensumstände innerhalb eines einzigen Menschenalters in allen Bereichen beträchtlich und mit nie dagewesener Geschwindigkeit ändern. Weil Ethik mit allen Teilbereichen der Kultur co-evolviert, hinkt an vielen Punkten die Entwicklung unserer Werte nach: der Wertethesaurus ist nicht mehr differenziert genug. Ergo müssen wir auf der Basis existenter Werte unsere Bemessungsgrößen verfeinern. Wertekonflikte werden dabei nicht gänzlich zu vermeiden sein, aber damit Ethik überzeugend ist und bleibt, sollten sie soweit wie möglich eliminiert werden: Ein Wertesystem muss weitgehend inhärent widerspruchsfei sein. Schließlich müssen wir uns der Quelle und Legitimation unserer Ethik klar werden. Ohne Zweifel ist sie christlich fundiert, aber reicht das noch für unsere säkulare und pluralistische Gesellschaft? Somit ist zu fragen: Was soll denn nun unseren Werte Kraft verleihen: Wollen wir gesinnungs- nützlichkeits- oder verantwortungsethisch denken? Soll Ethik konsequenzionalistisch sein oder nicht?

Embryo und Menschenwürde

Darauf kann man dieses Problem im Grunde reduzieren. Ab wann hat der menschliche Embryo Menschenwürde, welche Technik darf demnach auf ihn angewendet werden, welche nicht?
Zwei Extrempositionen sind zu nennen: 1.) gibt es die Ansicht, der Mensch trete mit der Geburt ins Leben und genieße folglich auch erst ab diesem Zeitpunkt Menschenwürde und entsprechenden Schutz. Diese Ansicht wurzelt in der Erfahrung früherer Zeiten, in denen der Embryo menschlichem Zugriff entzogen war und wird unterstützt durch die angelsächsische Philosophie (J. Lock), nach der man beim Menschen "human beeing" (= biologisches Mensch-sein) und "personality" (= Persönlichkeit mit "Humanitas") unterscheiden müsse. 2.) wird die Auffassung vertreten, der Mensch sei Mensch von der Zygote (befruchtete Eizelle) an, und sei dementsprechend unantastbar ab dem Moment der Zeugung. Hier sind christliche Ethik und kontinentale Philosophie zu zitieren, welche die Unterscheidungen zwischen biologischer Menschlichkeit und Humanitas entweder nicht kennen oder als irrelevant betrachten. Meiner Ansicht nach sind beide Positionen in sich widersprüchlich, daher wenig sinnvoll und nicht haltbar.

Ein Plädoyer für den Gradualismus

Die Schwäche beider Modelle besteht in ihrer Willkürlichkeit. Der ersten Auffassung kann man entgegen halten: "Wieso die Geburt? Warum nicht Nidation (Einnistung des Keimens)? Das akiv-werden des Gehirns? Der Augenblick, in dem das Kleinkind "ich!" sagt?" Der zweite Ansatz ist nicht minder willkürlich. Seine Verfechter führen ins Feld, eine menschliche Zygote besäße das komplette Humangenom und darüber hinaus genetische Individualität; sie könne sich zu nichts anderem entwickeln als zu einem Menschen und sei demnach "ein Mensch". Hier sehe ich zwei Probleme. Erstens kann man spitzfindig argumentieren, auch unsere Keimzellen seien zweifelsfrei menschlich, mit der alleinigen Potenz, Menschenkinder hervorzubringen. Und so wäre im gleichen Atemzug ein Verbot der Empfängnisverhütung begründbar: auch hier werde Gott (oder "der Vorsehung" oder "der Natur") ins Handwerk gepfuscht. Außerdem: ist ein Toter nicht auch noch "ein Mensch", zweifelsfrei als solcher zu erkennen?
Ein zweiter Einwand wiegt schwerer: Das Einzige, was mich als Mensch und Person mit Charakter und Humanitas mit einer menschlichen Zygote verbindet ist der Besitz des menschlichen Genoms. Wenn also eine Zygote genauso Mensch und Individuum mit Menschenwürde ist wie ich es bin, dann ist folglich allein der Besitz dieses Genoms notwendige und hinreichende Bedingung für Menschlichkeit und Menschenwürde. Das aber ist biologistischer Reduktionismus reinsten Wassers. Alles andere, was uns zu Menschen macht - Sprache, Kultur, Kommunikation, Empfindung, Selbst-Bewusstsein, Gesellschaft, Religion oder Weltanschauung, und vieles mehr - all dies wird ausgeklammert. Sollen es denn bloß unsere Gene sein, die uns Humanitas verleihen? Das erscheint schlicht absurd und rundheraus abzulehnen.
Mir scheint, dieses Dilemma ist nur zu beheben, wenn man ein gradualistisches Modell vorzieht und Menschenwürde als mehrschichtigen Begriff betrachtet. Dies meint, dass der Mensch, obgleich biologischer Mensch von Anfang an, im Laufe seiner Entwicklung langsam und Stück für Stück Humanitas im Sinne von Menschsein gewinnt. Auch "Würde" oder "Wert" eines Menschen sind komplexe, vielschichtige Begriffe. So kann eine Person ein großer Wissenschaftler sein, dabei ist er aber gleichzeitig eine "menschliche Null". Ein anderer mag Straßenkehrer sein oder "arbeitsscheu", gesegnet aber mit der Gabe, seinen Mitmenschen stets zur rechten Zeit das rechte Wort zu schenken. Beide haben ihre unveräußerlichen Menschenrechte, und nach christlicher Überzeugung sind wir alle "bereits im Mutterleib von Gott gerufen". All dies mag nebeneinander stehen, und es ist wohl keine gute Idee, die Ebenen zu vermischen.
Mir scheint sogar, dass dieses gradualistische und mehrdimensionale Modell tief in uns verwurzelt ist und unseren (angeborenen?) Emotionen am besten ntspricht: Was würde ein Feuerwehrmann aus einer brennenden Klinik retten, einen Säugling oder eine Kühlbox mit 500 eingefrorenen Embryonen? Was träfe uns als Eltern härter, was empfänden wir als schlimmer, einen Abort im 3 Monat, verglichen mit einer Totgeburt, verglichen mit dem Tod des Kindes im Alter von 2 Jahren? Eine explizite Antwort erübrigt sich wohl.
Akzeptieren wir also für den Moment diesen Ansatz, was bedeutet das für die Beurteilung der frühen Phasen der Embryonalentwicklung? Nun, logischerweise müssten wir doch eigentlich argumentieren, ein 8-Zell-Haufen habe nichts von Humanitas und sei daher in keiner Weise schutzwürdig. Aber dieser Schluss ist zu voreilig, denn wir wollten den Begriff Menschenwürde ja nicht nur als graduell, sondern außerdem als mehrschichtig betrachten. Dies sei an einem Beispiel verdeutlicht: Menschenwürde hat nur der lebende Mensch, ergo kann ich die Würde eines toten Menschen nicht mehr verletzten. Wenn ich Opa nach dem Tod einäschere und in die Eieruhr fülle, füge ich ihm damit keinen Schaden, keine Verletzung zu. Dieses Szenarium lässt aber erschaudern, ganz offensichtlich greift ein "linearer" Würdebegriff zu kurz. Offenbar kann ich nämlich die Würde des Menschen verletzten, der er einmal war und in unserer Erinnerung noch ist!

Ein Plädoyer für die Verantwortungsethik

Eine weitere Frage ist, welcher inneren Logik unsere Ethik folgen soll - man mag mir den extrem verkürzten Diskurs vergeben. Man kann unterscheiden zwischen: Gesinnungsethik, Verantwortungsethik und Nützlichkeitsethik.
Die Gesinnungsethik betrachtet Werte als absolut. Die Verantwortungsethik prinzipiell auch, sie sieht aber realistisch die Möglichkeit von Konflikten und ist bereit, Werte gegeneinander abzuwägen. Die Nützlichkeitsethik kennt als wichtigste Maxime den größtmöglichen Nutzen für möglichst viele Menschen.
Das Problem der Gesinnungsethik ist ihre Weltfremdheit. Immer wieder werden wir mit Situationen konfrontiert, in denen Wertekonflikte auftreten. Das Problem der Nützlichkeitsethik wiederum ist die Tatsache, dass sie nicht "Farbe bekennt", dass ihr eigentlich außer dem Prinzip der Nützlichkeitsmaximierung die Werte fehlen. Die Verantwortungsethik kennt wie die Gesinnungsethik einen Wertethesaurus, ist aber realistisch und fragt nach praktischen Folgen.

Wertekonflikte und Widerspruchsfreiheit

Ethik ist keine empirische Wissenschaft. Weil das Leben nun einmal komplex ist, sind Wertekonflikte unausweichlich. Zwei Fälle sind dabei zu unterscheiden: Konkrete Situationen, in denen Werte in Widerspruch geraten, und Werte, die sich per se widersprechen.
Ersteres ist unvermeidlich, zweiteres inakzeptabel. Auch hier Beispiele zur Verdeutlichung: Stellen wir uns vor, ich bin Zeuge eines bewaffneten Angriffs auf eine Gruppe von Kindern. Das Gesetz erlaubt mir, falls nichts anderes bleibt, den Angreifer in Nothilfe zu töten. Dieses Notwehrrecht gilt auch bei Schuldunfähigkeit des Angreifers, er könnte geisteskrank sein oder unter einem Nervengift leiden. Also wird hier das Lebensrecht der einen Person(en) höher gewertet als das der anderen. Angewendet auf unser Problem bedeutet dies, dass, selbst wenn man dem Embryo von Anfang an Schutz und Menschenwürde zuerkennt, es vielleicht doch Situationen und Gegebenheiten geben kann, in denen das Interesse Anderer höher zu bewerten ist. Dieser Sachverhalt wird oft übersehen oder ignoriert.
In diesem Zusammenhang möchte ich die Äußerungen von Präses Kock über Adam Nash angeführt. Das Ehepaar Nash (USA) hatte eine mit einem Erbdefekt belastete Tochter. Es war klar, dass sie noch vor ihrem 10ten Lebensjahr würde sterben müssen. Ein weiteres Kind wäre mit einer Wahrscheinlichkeit von 25% ebenfalls betroffen. Die Eltern entschlossen sich nach einer genetischen Beratung zu einer in-vitro-Fertilisation. Knapp 30 Eizellen wurden befruchtet, eine ohne Defekt, die darüber hinaus zur Schwester genetisch "passte", implaniert und ausgetragen, die anderen vernichtet. So wurde Adam Nash gesund geboren. Mit Stammzellen aus seinem Nabelschnurblut wurde die Schwester gerettet. Nun hat die Familie zwei gesunde Kinder, die überzähligen Embryonen (8-Zell-Stadium oder etwas später) wurden vernichtet. Herr Kock sieht im darin prinzipiell einen "ethischen Dammbruch", moniert die 'Schaffung und Zerstörung von Menschen als Ersatzteillager' und sieht im Falle Nash den 'Lebensschutz in Frage gestellt', einen Schritt getan hin zur 'Herstellung von Designerbabies als Organspender'. Hätte Herr Kock die Stirn, den Eltern ins Gesicht zu sagen: "Sorry, wir könnten Euch helfen, aber wir bewerten die Rechte von 30 8-Zell-Stadien höher, Ihr müsst jetzt einige Jahre lang zusehen, wie Euer einziges Kind siecht und stirbt!"?
Kommen wir nun zu Werten, die sich per se widersprechen, umgangssprachlich nennt man das "Messen mit zweierlei Maßen". Drastisches Beispiel hierfür ist die Diskrepanz zwischen dem derzeitigen Embryonenschutzgesetz und dem § 218. Ein Embryo im Reagenzglas ist gegen alles und jeden geschützt, wird er aber implantiert, so unterliegt er der mütterlichen Willkür: Abtreibung eines ausdifferenzierten Fötus aus welchem Grund auch immer bleibt straffrei, das 8-Zell-Stadium im Reagenzglas ohne Gestalt und Körper bleibt tabu. Diese Diskrepanz ist hanebüchen, vollkommen inakzeptabel.

Und der christliche Standpunkt?

Bisher wurde die christliche Ethik mit gutem Grund ausgeklammert, denn unsere Gesellschaft ist de facto keine christliche mehr, sondern pluralistisch und säkular - und das ist gut so: Die Zeiten der Staatsreligion sind vorbei. Dafür ist uns aber leider eine wichtige gesellschaftliche "Klammer" verloren gegangen, viele unserer Mitbürger sind Atheisten oder Angehörige anderer Religionen. Eine hristlich fundierte Ethik kann daher nicht die notwendige Überzeugungskraft ntwickeln. Daher ist zu unterscheiden zwischen Dingen, die wir als Christen für uns selber nicht akzeptieren können, und solchen, die wir für generell inakzeptabel halten. Als Christen sind wir sicher aufgerufen, uns am öffentlichen Diskurs zu beteiligen und bei der Entscheidungsfindung mit zu wirken. Allerdings sind wir dabei gut beraten, so zu argumentieren, dass andere unsere Gedanken nach vollziehen und sich zu eigen machen können.

Conclusio

Wenn wir vernünftigerweise akzeptieren, dass sich der Mensch in Schritten entwickelt und seine Schutzwürdigkeit ebenfalls abzustufen ist; und wenn wir ebenso vernünftigerweise verantwortungsethisch handeln und urteilen wollen, dann kann es keine kategorische Entscheidung für oder wider geben. Die Schutzwürdigkeit eines Embryo wird demnach gegenüber Fremdinteressen abwägbar, so wie es unser Abtreibungsrecht bereits vorsieht: Die Interessen des werdenden Kindes gegenüber denen der Mutter. Allerdings liegt hier ein eklatanter und inakzeptabler Widerspruch vor: Das Embryonenschutzgesetz legt die Messlatte sehr hoch, der § 218 sehr niedrig. Wünschenswert wären vergleichbare Maßstäbe: Abtreibung nur aufgrund ähnlich zwingender Gründe sowie Embryonenforschung und -verwertung nur für strikt geregelte Fälle.
Die Debatte darüber, was denn nun konkret "zwingend" und "vertretbar" sei, wird uns nicht erspart bleiben. Sich dieser Diskussion durch eine fundamentalistische Position zu entziehen, ist eine gesinnungsethische Scheinlösung. Wir sollten nicht erwarten, auf ethische Probleme ewige, abschließende und kategorische Antworten finden zu können. Wir müssen uns mit ehrlichen Kompromissen zufrieden geben.